Beispiel einer Therapie

Frau M. erzählt:

Meine erste Panikattacke bekam ich am Heiligabend. Das war Weihnachten 2002. Ich werde es nie vergessen: zuerst ein plötzliches Gefühl von Schwäche, ein Zittern in Armen und Beinen und dann plötzlich wie aus dem Nichts blanke Angst. Ich keuchte und schnappte nach Luft. Mein Herz hämmerte wie verrückt. „Jetzt muss ich sterben“ war mein einziger Gedanke. Aber nach einiger Zeit – nach Aussagen meiner Familie waren es nur ein paar Minuten – ließ die Angst nach, verschwand plötzlich und ließ mich erschöpft und verwirrt zurück.

Diagnose "Panikstörung"

Von da an gehörten Panikattacken zu meinem Alltag. Verschiedene fachärztliche Untersuchungen brachten keinen körperlichen Befund, nur die mir bis dahin unbekannte Bezeichnung „Panikstörung“. Man verschrieb mir Psychopharmaka, zu denen ich in Notsituationen greifen konnte und riet mir zu einer psychotherapeutischen Behandlung. Die Panikattacken überfielen mich immer wieder und waren mit keinem bestimmten Ort verknüpft: beim Einkaufen im Supermarkt, im Auto, im Bus, bei einem Familienfest, aber auch zu Hause im Bett. Nach fünf Monaten war ich soweit: ich suchte eine Psychotherapeutin auf, bei der ich dann über ein Jahr in Behandlung war.

Meine eigenen Wünsche

Ich lernte eine Entspannungstechnik, die die Anfälle etwas milderte, aber vor allem war ich jetzt bereit, mein Leben etwas intensiver und ehrlicher zu betrachten als früher und mich mit Dingen auseinander zu setzen, die mir bis dahin kaum bewusst waren. Ich sprach mit meiner Therapeutin die einzelnen Situationen durch, in denen die Angst kam, und merkte nach und nach, dass sie etwas mit meinen nicht ausgesprochenen, teilweise nicht einmal ausdrücklich bewussten Wünschen zu tun hatte. Bis dahin war ich es gewohnt gewesen, meine Wünsche und Vorstellungen zurückzustellen zugunsten der anderen: meines Mannes, meiner Kinder, früher meiner Eltern und meiner Geschwister. Mir wurde bewusst, dass ich befürchtete, die Zuneigung der mir nahestehenden Menschen zu verlieren, wenn ich meine eigenen Wünsche über die ihren stellte. Bei meiner Mutter was das tatsächlich so gewesen: wenn ich mich ihren Wünschen nicht unterordnete, wenn ich „selbstsüchtig“ war, wurde ich mit Nichtbeachtung bestraft. Es war, als ob es mich gar nicht gäbe. Ich erinnere mich, dass sie unter Umständen tagelang nicht mit mir redete, bis ich „zu Kreuze kroch“ und zur Belohnung wieder unter ihre Fittiche schlüpfen durfte. In dieser Zeit hatte ich mir angewöhnt, die Wünsche der anderen schon im Voraus zu erahnen und, wenn möglich, zu ihrer Erfüllung beizutragen. Das trug mir den Ruf eines braven, einfühlsamen und verantwortungsbewussten Kindes ein, aber es führte auch dazu, dass ich meine eigenen Wünsche und Bedürfnisse kaum mehr wahrnahm, mich nur noch an denen meiner Umgebung orientierte. Diese Einstellung hatte ich auch mit in die Ehe gebracht: ich war eine einfühlsame Ehefrau und eine aufopferungsvolle Mutter und fürchtete wohl, die Zuneigung meiner Familie aufs Spiel zu setzen, wenn ich einmal meine eigenen Wünsche über die der anderen stellte.

Beruf und Famile

Als ich meine erste Panikattacke hatte, war ich gerade im Begriff, meinen Wiedereinstieg in den Beruf vorzubereiten. Als Arzthelferin bekam ich die Gelegenheit, in einer renommierten Praxis tageweise wieder zu arbeiten. Natürlich bedeutete das für meine Familie eine einschneidende Umstellung. Mein Mann stellte fest, dass ich relativ wenig Zeit für ihn hatte, und meine Kinder maulten, wenn mal die Milch ausging oder das Lieblings-Tshirt nicht gleich gewaschen wurde. Ich bekam das Gefühl, ich könne kaum beiden Seiten gerecht werden – Familie und Beruf – und müsse mich für eine von beiden entscheiden. Tatsächlich musste ich meine Arbeit wegen der Angstattacken vorübergehend aufgeben. Aber auch das besserte meine Angststörung nicht. Im Gegenteil: ich begann daran zu zweifeln, ob ich je wieder ein „normales“ Leben führen könnte, geschweige denn noch einmal den Anforderungen meines Berufs gewachsen wäre.

Überprüfung der Realität: reagiert meine Familie so wie damals meine Mutter?


In dieser Situation wurde ich von meiner Therapeutin ermutigt, meine Wünsche deutlicher zu spüren und zu ihnen zu stehen. Bald trat ein Zusammenhang zwischen meinen Panikattacken und meinen zurückgestellten Wünschen immer deutlicher zu Tage. Sie traten bevorzugt dann auf, wenn ich im Zwiespalt war zwischen meinen eigenen berechtigten Wünschen und Zielen und denen meiner Familie – oder sogar den von mir vermuteten Wünschen meiner Familie. Mein altes Schema hieß ja: die Wünsche der anderen sind wichtiger als die eigenen. Ich hatte Angst, meinen Mann oder meine Kinder zu verletzen, wenn ich ihre Wünsche nicht erfüllte und dadurch ihre Liebe zu verlieren. Jetzt konnte ich meinen Zwiespalt deutlich spüren, ihn meiner Therapeutin und schließlich auch meinem Mann anvertrauen. Mein Mann erschrak über meine Furcht, seine Liebe zu verlieren und unterstützte meine Wünsche gegenüber den Kindern von da an mit Nachdruck. Auch diese zeigten mehr Verständnis für meine Situation als ich geglaubt hatte. Insgesamt durfte ich die Erfahrung machen, dass die alten Befürchtungen aus meiner Kindheit nicht mehr zutrafen. Meine Familie unterstützte mich und ich durfte meinen Wunsch nach Berufstätigkeit ernstnehmen ohne ihre Liebe zu riskieren.

Ich bin wichtig!

In dieser Zeit lernte ich überhaupt, mich und meine Gefühle wichtig zu nehmen und mich entsprechend zu äußern. Ich lernte auch, Wut zu spüren und angemessen zu äußern und empfand das als große Befreiung. Es tat mir unheimlich gut, meine Gefühle zu äußern und sie nicht mehr in mich hineinzufressen.

Die Angstgefühle wurden immer schwächer, ich konnte wieder zur Arbeit gehen und in meinem Beruf wieder Fuß fassen. Heute fühle mich freier und froher als vor meiner „Angstzeit“. Es war eine schwere Zeit, aber aus der Sicht von heute war sie wohl notwendig um dahin zu kommen, wo ich heute stehe – und wo ich eigentlich immer schon hin wollte.

 

Eva Lohr Praxis für Psychotherapie | Rehlingstr.16, 79100 Freiburg, Tel. 07664 7074